Mandanteninformation | 20.05.25
„Barrierefreiheit“ sicherstellen – neue gesetzliche Vorgaben für viele Produkte und Dienstleistungen ab dem 29. Juni 2025
Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und der BFSG-Verordnung werden ab dem 29. Juni 2025 erstmals auch private Unternehmen verpflichtet, ihre Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Der Beitrag gibt einen Überblick über die neuen Anforderungen und deren Umsetzung.
Schon vor einiger Zeit wurden mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)[1] und der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV)[2] die Vorgaben des European Accessibility Act (EAA)[3] ins nationale Recht überführt. Darin werden insbesondere Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen definiert, die im Verkehr mit Verbrauchern[4] angeboten bzw. erbracht werden. Die Vorgaben sind beginnend mit dem 29. Juni 2025 einzuhalten und betreffen insbesondere den gesamten Online-Handel, aber auch E-Books, Computer, Smartphones, Tablets, Router, Geldautomaten und Beförderungs- oder Bankdienstleistungen.
Die neue Gesetzgebung soll die Rechte von Verbrauchern stärken, damit in einer inklusiven Gesellschaft alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Waren öffentliche Stellen in Deutschland schon zuvor verpflichtet, ihre Webauftritte und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten, nehmen BFSG und BFSGV erstmals auch die Privatwirtschaft in die Pflicht. Innerhalb des Anwendungsbereichs werden – teilweise leider auslegungsbedürftige – Anforderungen an die Barrierefreiheit verschiedener Produkte und Dienstleistungen gestellt. Bei Nichteinhaltung der gesetzlichen Vorgaben kann die Marktüberwachungsbehörde die Bereitstellung der Produkte und Dienstleistungen einschränken, untersagen oder dafür sorgen, dass diese zurückgerufen werden. Ferner drohen Abmahnungen von Verbraucherverbänden und Wettbewerb. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die ab Ende Juni 2025 geltenden Regelungen und deren wesentliche Inhalte.
Für welche Produkte und Dienstleistungen gelten BFSG und BFSGV?
Der Anwendungsbereich der Regelungen erfasst folgende Produktgruppen, sofern die Produkte nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht und (zumindest auch) Verbrauchern angeboten werden:
- Hardwaresysteme einschließlich Betriebssysteme
- Selbstbedienungsterminals: Zahlungsterminals, Geldautomaten, Fahrausweisautomaten, Check-in-Automaten, Selbstbedienungsterminals zur Bereitstellung von Informationen
- Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste oder für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden (z.B. Tablet, Smartphone)
- E-Book-Lesegeräte
Des Weiteren erfasst sind auch (digitale) Dienstleistungen, die nach dem 28. Juni 2025 (zumindest auch) für Verbraucher erbracht werden:
- Telekommunikationsdienste
- Elemente von Personenbeförderungsdiensten: Webseiten, Apps, elektronische Tickets und Ticketdienste, Bereitstellung von Verkehrsinformationen, interaktive Selbstbedienungsterminals
- Bankdienstleistungen für Verbraucher
- E-Books und hierfür bestimmte Software
- Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr,[5] also insbesondere E-Commerce (dazu näher unter IV.)
Praxishinweis:
Sofern Ihr Unternehmen in eine der relevanten Branchen fällt und/oder eine Internetseite oder mobile App mit interaktiven Elementen oder Funktionen für Nutzer anbietet, sollten Sie sorgfältig prüfen lassen, ob diese Angebote fortan barrierefrei sein müssen. Wahrscheinlich ist dies insbesondere, wenn für Verbraucher Bestellungen, Einkäufe oder Terminbuchungen online möglich sind oder eine Nutzerregistrierung erfolgen kann. Rein informative Webseiten (z.B. Blogs, reine Produktpräsentation) mit allgemeinen Kontaktdaten erfüllen die Kriterien nicht. Die Abgrenzungskriterien sind indes noch nicht hinreichend konturiert. Ebenso nicht geklärt erscheint, ob auch kostenfreie Angebote erfasst sein sollen oder nicht.
Für einzelne Bereiche sieht das BFSG gewisse Ausnahmen (z.B. für archivierte Webseiten oder vorveröffentliche Medieninhalte) oder längere Übergangsfristen vor. So gelten etwa für Dienstleister, die mit von ihnen auch schon vor dem 28. Juni 2025 eingesetzten Produkten arbeiten, Übergangsfristen bis zum 27. Juni 2030. Vor dem 28. Juni 2025 bereits genutzte Selbstbedienungsterminals dürfen bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer, jedoch nicht länger als 15 Jahre nach ihrer Ingebrauchnahme, eingesetzt werden.
Wer ist von der neuen gesetzlichen Regelung betroffenen?
Rein geschäftliche („B2B“) oder rein private („C2C“) Angebote fallen nicht in den Anwendungsbereich. „Mischangebote“ für Verbraucher und Unternehmer sind aber erfasst.
Verpflichtet werden – ähnlich dem Produkthaftungsrecht – weitgehend alle Wirtschaftsakteure, die beim Inverkehrbringen beteiligt sind. So dürfen Hersteller, Importeure und Händler die erfassten Produkte nur in den Verkehr bringen, wenn die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt sind. Gleiches gilt für alle Erbringer von erfassten Dienstleistungen.
Kleinstunternehmen sind von den Anforderungen des BFSG ausgenommen. Als Kleinstunternehmen gelten Unternehmen, die während eines Jahres weniger als zehn Vollzeitarbeitnehmer beschäftigen und (!) einen Jahresumsatz bzw. eine Jahresbilanzsumme von höchstens zwei Millionen Euro erzielen.
Zudem müssen Barrierefreiheitsanforderungen in eng umrissenen Ausnahmekonstellationen nicht erfüllt werden. Dies betrifft Fälle, in denen dies zu einer unverhältnismäßigen Belastung führen oder vorzunehmende Änderungen ein wirtschaftliches Risiko für das Unternehmen darstellen. Die hierfür geltenden formalen und materiellen Anforderungen sind indes sehr hoch.
Praxishinweis:
Selbst wenn Zweifel verbleiben, ob ein Kundenangebot die gesetzlichen Anforderungen erfüllen muss oder nicht, haben barrierefreie Angebote viele Vorteile. Eine in dieser Beziehung aufgebaute „Routine“ käme Unternehmern insbesondere dann zugute, wenn der Anwendungsbereich des BFSG weiter ausgebaut werden sollte.
Was ist für Verpflichtete im Allgemeinen zu tun?
Die betroffenen Produkte und Dienstleistungen müssen für Menschen mit Einschränkungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sein. Zielgruppen sind vor allem Menschen mit Seh-, Gehör-, kognitiven oder motorischen Beeinträchtigungen, die gegebenenfalls nur mithilfe von unterstützenden („assistiven“) Technologien (z.B. Screenreader, Braille-Zeilen, Spracherkennungssoftware) Inhalte wahrnehmen können. Nähere produkt- und branchenspezifische Einzelheiten ergeben sich aus der BFSGV.
Werden die Barrierefreiheitsanforderungen bei Produkten nicht erfüllt, was nach dem erfolgreichen Durchlaufen bestimmter Konformitätsverfahren (z.B. EN 301 549) vermutet werden kann, dürfen sie nicht vermarktet werden. Beispielsweise müssen Informationen zur Nutzung eines Produkts (z.B. Gebrauchsanleitung) über mehr als einen sensorischen Kanal („Zwei-Sinne-Prinzip“), also etwa schriftlich und über eine Sprachausgabe, erfassbar sein. Ferner müssen sie in einer angemessen großen Schriftgröße und ausreichendem Kontrast dargestellt werden.
Daran anknüpfend enthält das BFSG diverse Prüf-, Nachweis-, Kennzeichnungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten für Hersteller, Einführer, Händler und Dienstleistungsanbieter. So muss ein Hersteller, dessen Produkt den Barrierefreiheitsanforderungen nicht genügt, die zuständige Marktüberwachungsbehörde hierüber informieren. Für Dienstleistungen muss eine barrierefrei zugängliche Erklärung zur Barrierefreiheit angeboten bzw. verfügbar gemacht werden. Darin ist u.a. darzulegen, auf welche Weise die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt werden und wer die zuständige Marktüberwachungsbehörde ist.
Praxishinweis:
Die Erklärung zur Barrierefreiheit muss entweder in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder auf andere deutlich wahrnehmbare Weise erfolgen. Bei Webseiten bietet sich daher z.B. eine Darstellung über einen Link in der Fußzeile (ähnlich wie beim Impressum oder Datenschutzhinweisen) an. Aufgrund des individuellen Inhalts sind Online-Generatoren hierfür nicht zu empfehlen.
Was gilt speziell für die Gestaltung von Online-Auftritten und Online-Angeboten?
Bei im elektronischen Geschäftsverkehr angebotenen Dienstleistungen müssen relevante Informationen über mehr als einen sensorischen Kanal zur Verfügung gestellt werden sowie auffindbar, gut lesbar, wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein. Ähnliches gilt für Identifizierungs-, Authentifizierungs-, Sicherheits- und Zahlungsfunktionen.
Präzisere Vorgaben hierzu enthält das Gesetz nicht. Allerdings kann insoweit an die bestehenden Vorgaben und Empfehlungen aus harmonisierten Normen angeknüpft werden. Maßgeblich für Webseiten sind vor allem die Anforderungen der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG).
Praxishinweis:
Um herauszufinden, ob Ihre Webseite barrierefrei ist oder in welchen Punkten noch Nachbesserungsbedarf besteht, sollten Sie u.a. Folgendes überprüfen:
Nutzen Sie kurze Sätze mit einfachem Satzbau, die auch für Menschen mit Leseschwierigkeiten verständlich sind? Verwenden Sie Anglizismen?
Sind Interaktive Elemente wie Links oder Schaltflächen nicht nur per Maus, sondern auch über die Tabulator-Taste (↹) erreichbar?
Kann die Webseite von Blinden oder Menschen mit Sehbehinderungen auch mit Hilfe von Vorleseanwendungen („Screenreader“) genutzt werden?
Besteht ausreichender Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrundfarbe?
Verwenden Sie ausschließlich Text anstelle von Bilddateien mit Textinformationen, die von assistiven Technologien nicht erfasst werden können?
Enthaltenen eingebettete Videos Untertitel für Gehörlose?
Lassen sich bewegende, blinkende oder scrollende Informationen, die automatisch starten, durch den Nutzer stoppen?
Durchsetzung und Sanktionen
Die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen ist durch die zuständige Marktüberwachungsbehörde zu kontrollieren. Diese kann hierbei von sich aus aktiv werden und stichprobenartig prüfen, aber auch durch Verbraucher oder Verbände zum Handeln aufgefordert werden. Um hierbei eine bundesweit einheitliche Durchsetzung zu gewährleisten, haben die Bundesländer über einen Staatsvertrag die Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen (MLBF) eingerichtet. Der Sitz dieser neu geschaffenen Behörde, die über ca. 70 Mitarbeiter verfügen soll, ist in Magdeburg.
Wird feststellt, dass ein Angebot nicht barrierefrei ist, erfolgt zunächst die Aufforderung, die Barrierefreiheit (wieder-)herzustellen. Werden mehrere dieser Aufforderungen ignoriert, kann die MLBF bis zur Erfüllung weitere Maßnahmen ergreifen, bis hin zu Anordnung der Einstellung des elektronischen Geschäftsverkehrs oder der Untersagung von Produktangeboten oder Produktrückrufen. Ferner können Geldbußen bis maximal 100.000 EUR verhängt werden.
Überdies ist es sehr wahrscheinlich, dass die Vorgaben des BFSG als Marktverhaltensregeln im Sinne des Gesetzes gegen den Unlauteren Wettbewerb (UWG) eingestuft werden. Dann können klageberechtigte Verbände und Institutionen sowie Wettbewerber entsprechende Verstöße auch wegen unlauteren Verhaltens abmahnen.
Fazit und Handlungsempfehlungen
Wiewohl hehren Zielen dienend, bescheren BFSG und BFSGV den betroffenen Unternehmen nicht unerhebliche (weitere) Compliance-Aufgaben. Um Haftungs- und Abmahnrisiken zu minimieren, sollten die Vorgaben rechtzeitig umgesetzt werden.
Da die recht abstrakten gesetzlichen Vorgaben an den Realitäten (z.B. der betreffenden Webseite) zu messen sind, ist eine einzelfallbezogene und individuelle Überprüfung und Beratung dringend anzuraten. Wir unterstützen Sie gerne bei der Überprüfung des Umfangs der einzuhaltenden Pflichten, der Verbesserung der Barrierefreiheit Ihrer Online-Angebote und dem Erstellen von Barrierefreiheitserklärungen
[1] Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze vom 16. Juli 2021 (BGBl. 2021, S. 2970, Link).
[2] Verordnung über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen nach dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – BFSGV) vom 15. Juni 2022 (BGBl. 2022, S. 928, Link).
[3] Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 70, Link).
[4] Aus Gründen besserer Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form verwendet, was jedoch stets auch alle sonstigen Formen inkludiert.
[5] Zum elektronischen Geschäftsverkehr gehören nach § 2 Nr. 26 BFSG alle Dienstleistungen der Telemedien, die über Webseiten und über Anwendungen auf Mobilgeräten angeboten werden und elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags erbracht werden.
Diese Mandanteninformation beinhaltet lediglich eine unverbindliche Übersicht über das in ihr adressierte Themengebiet. Sie ersetzt keine rechtliche Beratung. Als Ansprechpartner zu dieser Mandanteninformation und zu Ihrer Beratung stehen gerne zur Verfügung.
Hannah Bräunche